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Titel
Rising Subjects. The 1905 Revolution and the Origins of Modern Polish Politics


Autor(en)
Marzec, Wiktor
Reihe
Russian and East European Studies
Erschienen
Anzahl Seiten
XVI, 294 S.
Preis
$ 50.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Felix Ackermann, Deutsches Historisches Institut Warschau

Wiktor Marzec untersucht in seiner Studie über die Revolution 1905 im polnischen Westen des Russländischen Reichs die öffentliche Politisierung von Arbeiter:innen in den Industriestädten Łódź, Warschau und Białystok. Die Kernthese der an der Central European University in Budapest verteidigten Dissertation lautet, dass die Arbeiterschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen entscheidenden Anteil an der Herausbildung einer zunehmend horizontal kommunizierenden polnischen Gesellschaft hatte. Der an der Universität Warschau lehrende Soziologe Marzec zeigt, wie sich die Arbeiter:innen im Ringen mit den Vertretern des russländischen Staats sowie im Austausch mit der Intelligenzija politisierten und durch radikale Praktiken der Mitsprache eine kritische Gegenöffentlichkeit schufen. Damit konstitutierten sie sich selbst als politische Subjekte – eben als „Rising Subjects“.

Obwohl die Revolution von 1905 im Keim erstickte, sieht Marzec darin einen Schlüsselmoment der Konstituierung einer modernen Öffentlichkeit und einer polnischsprachigen Gesellschaft. Die Protestierenden erlangten institutionelle Zugeständnisse wie die formelle Einführung politischer Mitbestimmung in der Duma sowie eine Reihe neuer zumindest formal geltender Bürgerrechte. In den Industriestädten kristallisierten sich innerhalb der polnischsprachigen Arbeiterschaft unterschiedliche politische Strömungen heraus, die in ihrer Agitation, bei Streiks und Aufmärschen in zunehmend polemischer Weise aufeinander Bezug nahmen. Ergebnis war eine gegenseitige Radikalisierung, die 1905 in Straßenunruhen zum Tragen kamen und zu einer Destabilisierung staatlicher Herrschaft führten. Marzec macht deutlich, dass weder der argumentative noch der gewaltsame Kampfmodus im Ringen um politische Partizipation im westlichen Teils des Russländischen Reichs mit der Herstellung von Konsens einherging. Im Gegenteil war die starke Polarisierung und der offene Kampf der widerstreitenden politischen Optionen im ideologischen Spektrum zwischen Sozialismus und Nationalismus – auch innerhalb der Arbeiterschaft – eine Folgeerscheinung des realen Gewinns an politischer Teilhabe. Das zunehmend klare Bewusstsein vieler Arbeiter:innen für ihre neue Sichtbarkeit sei das Ergebnis einer veränderten Selbstverortung vis à vis anderer sozialer Gruppen gewesen und ging laut Marzec mit einem hohen Grad an Selbstermächtigung einher (S. 61). Als entscheidend für die Dynamik der von ihm untersuchte Entstehung einer polnischen politischen Öffentlichkeit betrachtet Marzec nicht die Auflösung von Widersprüchen zugunsten eines sozialen Konsenses, sondern den Kampf um Repräsentation in immer wieder neuen konfliktuellen Kommunikationszusammenhängen. So sei für eine große Mehrheit der Akteure die politische Vorstellungskraft einer sich selbst von unten konstituierenden Gesellschaft wichtiger als das formelle Prinzip der Demokratie gewesen.

Theoretisch schließt die Arbeit an die Kritik von Oskar Negt und Alexander Kluge an dem von Jürgen Habermas geprägten normativen Konzept von Öffentlichkeit an. Marzec nimmt diese auf und denkt die Transformation von Öffentlichkeit konsequent zusammen mit der Veränderung politischer Subjektivität der Akteursgruppen, die im Mittelpunkt seiner Analyse stehen. Letztlich bezieht sich aber auch Marzec auf Habermas, wenn er explizit nach der realen Beteiligung bis dahin symbolisch, rechtlich und kulturell ausgeschlossener sozialer Gruppen wie der Arbeiterschaft an innergesellschaftlichen Kommunikationsprozessen fragt. Dazu verschiebt er den Fokus von der Analyse von Regierung, Parlament und Rechtssetzung auf die zahlenmäßig immer größer werdende Arbeiterschaft. Auf diese Weise betont er, dass die Entstehung einer neuen Form von Öffentlichkeit nicht von oben eingeleitet, sondern von unten erkämpft wurde. Da neue Formen von Öffentlichkeit und damit auch neue politische Rechte in Warschau und Łódź gegen die Dominanz russländischer Akteure und ihrer Beharrungskräfte durchgesetzt werden mussten, gehört zu Spezifika dieses Prozesses, dass eine polnischsprachige Öffentlichkeit innerhalb des Russländischen Reichs nicht innerhalb und dank des staatlichen Rahmens entstand, sondern explizit im Widerstand gegen diesen errungen wurde.

Eine bis ins 21. Jahrhundert fortwirkende Folge dieser Konfiguration war, dass sich die polnischsprachige Gesellschaft im Ringen mit dem repressiven russländischen Staat zunehmend in ethnischen Kategorien als diskursive Kongruenz von Volk und Nation konstituierte. Marzec erklärt überzeugend, dass diese Entwicklung zwar nicht zwangsläufig war, aber durch die Spannung zwischen Nationalismus und Marxismus gerade in der neu mobilisierten und sprachlich, religiös sowie ethnisch äußerst heterogenen Arbeiterschaft begünstigt wurde.

Um das empirisch zu untermauern, untersucht Marzec in fünf Kapiteln jeweils unterschiedliche Formen der Selbstermächtigung der Arbeiterschaft als neue politische Kraft in Polen unter russländischer Herrschaft. Während das Buch mit „den Arbeitern und ihrer Intelligenzija“ beginnt, endet es mit einem Kapitel über die „Intelligenzija und ihre Arbeiter“. Darin geht der Autor auf die Wechselwirkung dieser beiden sozialen Gruppen bzw. Klassen ein, die anfänglich stark von der Intelligenzija ausging, deren positivistischer Erweckungseifer im Zeichen des Programms der „Organischen Arbeit“ in den Jahrzehnten vor 1905 neben den Bäuer:innen besonders auf die Arbeiter:innen zielte. Die Pointe in der Anlage des Buchs besteht darin, dass Marzec ganz konkret zeigt, wie die politisch selbstermächtigten Arbeiter:innen im Zuge der Revolution auch auf „ihre“ Intelligenzija zurückwirkten.

In einem weiteren Kapitel erklärt Wiktor Marzec mit bestechender Klarheit, wie sich die neuen politischen Subjekte, die sich im Laufe der Revolution von 1905 konstituierten, in der Dreieckskonstellation der zeitgenössisch dominanten Ideologien Liberalismus, Sozialismus und Nationalismus positionieren mussten. Bei zunehmender Mobilisierung sei der Widerspruch zwischen der Beschwörung der nationalen Einheit sowie der Forderung nach der Anerkennung sozialer Rechte offenkundig geworden. Die polnischen Nationaldemokraten hätten darauf vor allem mit dem symbolischen und praktischen Ausschluss der jüdischen Bevölkerung aus der nationalen Gemeinschaft geantwortet, die von ihnen ausschließlich als polnisch-katholisch und polnischsprachig definiert wurde.

Im Kapitel über die Politisierung des Selbst unterstreicht Marzec, dass auch im russländisch beherrschten Teil Polens Zeitungen eine wichtige Rolle beim Entstehen von „imagined communities“ hatten, dass aber eine Politisierung der offenkundigen sozialen Frage bezüglich der materiellen Lebenswirklichkeit von Arbeiter:innen lange Zeit erfolgreich durch die staatliche Zensur blockiert worden sei. Deshalb kam den nachträglich geschriebenen Autobiographien der politisch Erweckten besondere Bedeutung zu – und unter ihnen im besonderen Maße die der neuen militanten Akteure, die ihre eigene Mobilisierung zur Erweckung anderer in Stellung zu bringen versuchten. In diesen autobiographischen Narrativen habe die Darstellung der militärischen Radikalisierung in Form von Bombenattentaten und bewaffneten Überfällen als Form individualisierten Widerstands gegen die zaristische Herrschaft eine wichtige Rolle gespielt. Die symbolische Überhöhung männlicher Gewalt erklärt Marzec mit einem Verweis auf die russländische Politik, die nicht nur als diskursive Projektionsfläche für Arbeiterphantasien diente, sondern im Alltag als gewaltsame Unterdrückungspraxis spürbar war.

Abschließend unterstreicht Marzec nochmals die Skala des Umbruchs von 1905 und bekräftigt seine Entscheidung, diesen auch im kritischen Rückblick weiterhin als Revolution zu fassen. Für deren Scheitern seien unter anderem das Zusammenfallen des geschlossenen Widerstands aus der Arbeiterschaft und die flächendeckende Verbreitung radikaler Ideologien entscheidend gewesen. Dennoch lasse sich die Revolution nicht auf eine dieser Ideologien einschränken.

Eine zentrale Einsicht des Buches ist, dass die inneren Spannungen und Konflikte, die 1905 zum Ausdruck kamen, auch in ihrer Radikalisierung von unten zur Modernisierung der politischen Gesellschaft beigetragen und diese langfristig geprägt haben. Obwohl das Ausmaß der Revolution als Folge ihrer einseitigen geschichtspolitischen Inanspruchnahme durch die polnischen Kommunisten nach dem Zweiten Weltkrieg im heutigen Polen weitgehend in Vergessenheit geraten ist, ruft Marzec in Erinnerung, dass die Arbeiter:innen in Lodz 1905 zu zentralen Akteuren der polnischen Nationsbildung von unten wurden.

Die soziologische Anlage des Buches provoziert die Frage, ob wir heute in einer ähnlichen Transformationsphase leben, in der die Entstehung neuer, ideologisch und staatlich nicht regulierter Formen von Öffentlichkeit zu einer grundlegenden Transformation der Gesellschaft(en) führt. Wiktor Marzec zeigt, wie die Wirkmacht der öffentlich auftretenden Arbeiterschaft am Beginn des 20. Jahrhunderts zur wechselseitigen Verstärkung von staatlichen Versuchen der symbolischen und politischen Ausgrenzung im russländisch beherrschten Teil Polens und der inneren Radikalisierung unterschiedlicher ideologischer Stränge innerhalb der Arbeiterschaft führte. Der klare theoretische Analyserahmen von Marzec ist über die Vergegenwärtigung des Jahres 1905 hinaus auch zur Historisierung gegenwärtiger Prozesse geeignet – etwa zur Untersuchung des Nexus zwischen einer radikal veränderten Form von Öffentlichkeit, die im frühen 21. Jahrhundert in der Dynamik sozialer Netzwerke manifest wird, und der Transformation von ausgegrenzten sozialen Gruppen als neue politische Subjekte – man denke nur an die gegenwärtige Konstituierung von Gegnern staatlicher Corona-Maßnahmen. Bei einem solchen Verfahren drängte sich der Vergleich zwischen der Funktion des selbst gedruckten Flugblatts von 1905 und eines Telegram-Kanals von 2021 auf.1

Anmerkung:
1 Ganz ähnliche Überlegungen verfolgt mit Blick auf die oppositionellen Untergrundmedien während des polnischen Spätsozialismus Piotr Wciślik, Dissident Legacies of Samizdat Social Media Activism. Unlicensed Print Culture in Poland 1976–1990, London 2021, rezensiert für H-Soz-Kult von Jan Olaszek, 01.03.2022, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-97053 (06.03.2022).